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19.07.2021 - 50 Jahre professionelle Hilfen für Menschen mit Behinderung - der EVS feiert Jubiläum


Der Sozialpädagoge Anton Karl war damals in der Gefährdetenhilfe der KJF tätig. Da er im Rahmen seines Studiums ein Praktikum im Bereich der Behindertenhilfe absolviert hatte, kam er auf die Idee, man könnte hier Arbeit und Wohnen für Menschen mit Behinderung schaffen. So erhielt er 1971 den Auftrag, seine Ideen in Steinhöring umzusetzen. Die Solanus-Schwestern - der Orden, welcher das Kinderkrankenhaus bis dahin betrieben hatte – blieben ebenfalls auf dem Campus und kümmerten sich um Kinder mit Behinderungen, die noch zur Zeit des Kinderkrankenhauses hier geboren und anschließend von den Eltern zur Versorgung an die Schwestern übergeben wurden. Von den heute noch stehenden Gebäuden stand nur die jetzige Förderstätte und das Wohnhaus II. Anton Karl startete damals mit weniger als einer Hand voll Mitarbeiter*innen und 3 Bewohner*innen im September des Jahres 1971.
Das Ziel, Menschen mit Behinderung Arbeit und ein sinnerfülltes Leben zu ermöglichen, stand im ersten Konzept des BZ Steinhöring. Bereits im Jahr 1972 wurde die Korbinianschule gegründet, eine Lehrkraft aus Ebersberg, Frau Böck, die erste Schulleitung in Steinhöring, fragte wegen Räumen an. Karl erkannte die Möglichkeit einer guten gemeinsamen Entwicklung mit seiner Vision und so wurden die Räume in Steinhöring langsam verschiedenen Aufgaben zugeordnet. Als sozialpolitisch interessierter Mensch engagierte sich Karl auch bundesweit für die Arbeitsbedingungen für Menschen mit Behinderung. Er arbeitete auf Bundesebene mit an der Werkstättenverordnung, dem bis heute geltenden Regelwerk für Menschen mit Behinderung und sicherte damit seine Vision, den Menschen mit Behinderung Arbeit zu ermöglichen, bis heute.
Bereits in den ersten Jahren kamen weitere für den EVS wichtige Mitstreiter dazu. Franz Wallner (1972), der leider mittlerweile verstorbene Jürgen Rossmann (1979) und Sebastian Gruber (1978).
(Auf dem Bild von links: Sebastian Gruber, Jürgen Rossmann, Anton Karl)


In Steinhöring ging man von Anfang an neue Wege. Die Verantwortlichen waren vor allem geprägt von der Idee der Normalisierung. Es sollten Orte der Begegnung geschaffen werden. Karl ließ alle Hecken und Zäune um das Gelände entfernen. Es sollte eine einladende Anlage werden, auf der Bewohner*innen, Mitarbeiter*innen und auch Besucher*innen gerne verweilen. Auch die später errichteten Sportanlagen wurden geöffnet für Externe. Es gab Volkstanz, Faschingsfeiern mit den ansässigen Vereinen und zunehmend entwickelte sich ein kleines regionales Kulturprogramm. Gemeinsames Feiern ist bis heute eine der liebsten Beschäftigungen der Steinhöringer.
Bereits wenige Jahre nach Gründung wurden die erste Außenwohngruppe geschaffen. Viele Einrichtungen der Eingliederungshilfe starteten damit erst 20 Jahre später. Für Steinhöring war und ist es wichtig, den Menschen mit Unterstützungsbedarf auf Augenhöhe zu begegnen und ihnen möglichst viel Selbstbestimmung zu ermöglichen. Auf der Veranstaltung zu „40 Jahre Außenwohnen“ berichtete Rossmann beispielhaft davon, dass damals die Bewohner*innen immer wieder „durch das Fenster abgehauen“ sind. Man beschloss ihnen Schlüssel zu geben, damit sie gehen und kommen konnten, wann sie wollten. Eine Entscheidung, die vor 50 Jahren sicher eher ungewöhnlich war. Aber die Haltung zur Innovation und zum Risiko, v.a. um den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und sie ernst zu nehmen, ist einer der Grundgedanken des heutigen Einrichtungsverbundes.

Die Vertreter des Betreuungszentrum Steinhöring machten es sich zur Aufgabe, Angebote für möglichst alle Menschen mit Behinderung zu schaffen, die im Landkreis lebten. Dies ist heute noch Teil der strategischen Planung des EVS. Auf Basis dieses Gedankens entwickelte sich ein Netzwerk von sehr differenzierten Angeboten für Menschen mit verschiedenen Unterstützungsbedarfen in den Landkreisen Ebersberg und Erding. Neben Wohneinrichtungen, Werkstätten und der Schule wurde mit dem Montessori-Kindergarten der erste integrative Kindergarten gegründet, als es hierfür noch keine offizielle Bezeichnung gab. Man eröffnete eine Tagesstätte und auch einen Kindergarten für seelisch behinderte Kinder, den Heilpädagogischen Kindergarten. Auch eine Frühförderung zur Förderung von Kindern von 0-6 Jahren wurde in Steinhöring gestartet. Hier erkannte man schnell, dass so ein Angebot einen niederschwelligen Zugang benötigte und verlagerte die Einrichtung in die Stadt Ebersberg. In den 80er Jahren begann der Bau der Werkstätten, der Korbinianschule und der HPT. Als die St. Josefs-Kongregation aus Ursberg auf die Steinhöringer zukam, ob sie nicht den Fendsbacher Hof übernehmen wollten, erkannte Karl die Chance die bereits überfüllten Werkstätten zu entlasten und dort Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung in der Landwirtschaft zu schaffen, auch eine zweite Gärtnerei wurde eröffnet, denn die Steinhöringer Gärtnerei war ein beliebter Arbeitsplatz.

Ende der 80er Jahre wurde die Förderstätte gegründet, eine tagesstrukturierende Einrichtung für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Damit schaffte man ein Angebot für die erwachsen gewordenen Absolvent*innen der Korbinianschule, die so schwer beeinträchtigt sind, dass sie nicht in der WfbM arbeiten können. Dies sind zum Teil heute noch die Kinder, die in der Zeit des Kinderkrankenhauses aufgenommen wurden und anfänglich noch von den Ordensschwestern auf dem Gelände betreut wurden. Heute umfasst die Förderstätte 74 Plätze.

In den 90er Jahren wurde das Wohnhaus II auf dem Gelände in Steinhöring saniert und das Wohnhaus I neu gebaut. In Fendsbach entstand das Haus Benedikt. Qualitätsmanagement und auch das heute noch geltende Fachkonzept für die Unterstützungsplanung wurden eingeführt. Das BZ gab sich eine Verfassung, die sogenannte Unternehmensverfassung. Neben den Zielen des BZ und seiner Einrichtungen wurden auch Grundsätze für leitende Mitarbeiter*innen und für alle Mitarbeiter*innen festgelegt. Damit wollten die „BZler“ die gemeinsame Wertebasis schriftlich niederlegen, um sich auf diese gemeinsame Verantwortung festzulegen.

In den 90er Jahren wurde deutlich, dass die Plätze in den Werkstätten und den Wohneinrichtungen, trotz des neuen Standortes Fendsbach und der vielen bereits geschaffenen Außenwohngruppen an verschiedenen Orten im Landkreis Ebersberg nicht ausreichen werden, den Bedarf zu decken. Eine neue Werkstätte wurde geplant. Eltern schlossen sich zu einer Verwaltungsgesellschaft zusammen und beschlossen, in Kooperation mit der KJF ein Haus für Menschen mit Behinderung zu bauen. 2001 wurden die Ideen Realität. In Eglharting entstand eine Werkstatt für 120 Beschäftigte und ein Wohnhaus für 22 Bewohner*innen. Gleichzeitig beschloss die KJF, sich neu zu strukturieren und die „Erdinger Einrichtungen“ wurden organisatorisch an den EVS angeschlossen; diese sind die St. Nikolaus-Schule und die Heilpäd. Tagesstätte in Erding sowie die Frühförderstellen Erding und Dorfen. Das BZ Steinhöring wurde umbenannt in den Einrichtungsverbund Betreuungszentrum Steinhöring (EVBZ). Zu diesem Zeitpunkt war die Einrichtung auf 650 Mitarbeiter*innen angewachsen. Nach 35 Dienstjahren verabschiedete sich Anton Karl im Jahr 2005 in seinen wohlverdienten Ruhestand. Dr. Frank Frese übernahm für vier Jahre die Geschicke des EVBZ. In dieser Zeit wurde das Piusheim der KJF geschlossen und der EVBZ übernahm die Angebote für Menschen mit psychischer Erkrankung. Räume in der Stadt Ebersberg wurden angemietet um Arbeit und Wohnen für diesen Personenkreis zu schaffen. Als Ort der Begegnung wurde das Café Wunderbar auf dem Gelände in Steinhöring errichtet.
Seit 2010 wird der EVS von Dr. Gertrud Hanslmeier-Prockl geleitet. Die handlungsleitende Idee, bedarfsgerechte Plätze für Menschen mit Behinderungen, bliebt fest verankert. In den letzten zehn Jahren wurde auf dem Fendsbacher Hof eine neue Förderstätte errichtet. Zur Schaffung von inklusiven Angeboten für Kinder im Vorschulalter wurde im neu gebauten Kinderhaus St. Gallus, dessen Betriebsträgerschaft der EVS bereits 2001 von der Diözese übernommen hatte, ein inklusiver Hort geschaffen. Am Standort Ebersberg wurde neben der Frühförderstelle ein Kinderhaus eröffnet und in der Gemeinde Taufkirchen an der Vils schaffte der EVS ein bayernweit einzigartiges inklusives Kinderhaus für Kinder mit seelischer Behinderung integriert in einen Regelkindergarten. Eine neue Frühförderstelle in Markt Schwaben wurde gegründet um den Bedarf der Kinder und Familien in der Zuzugsregion bedienen zu können. In der Stadt Ebersberg eröffnete der EVS ein Büro für ambulant begleitetes Wohnen, ein Dienst der mittlerweile über 20 Menschen begleitet, die in ihrer eigenen Wohnung leben. Gemeinsam mit einem privaten Investor realisierte der EVS ein Wohnhaus für 24 Menschen mit höherem Hilfebedarf inmitten von der Stadt Ebersberg. Mit dem Haus Moossteffl im gleichnamigen Stadtteil und mit den Ebersberger Werkstätten inklusive dem Biorestaurant „Speisekammer“ wurden Wohnplätze und über 60 Arbeitsplätze für Menschen mit seelischer Behinderungen geschaffen. Auch der Name des Verbundes hat sich geändert. Aus dem Einrichtungsverbund Betreuungszentrum Steinhöring wurde der Einrichtungsverbund Steinhöring, da der Begriff „Betreuung“ in der Eingliederungshilfe in Verruf geraten ist. Er steht heute nicht mehr für eine Beziehung auf Augenhöhe, sondern für ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Mitarbeiter*innen und Menschen mit Behinderung.
Heute beschäftigt der EVS 970 Mitarbeiter*innen und bietet über 2000 Plätze für Menschen mit Behinderung. Die Angebote für diese Menschen werden bereichert durch den Einsatz von über 100 ehrenamtlichen Helfern.

An der Geschichte des EVS wird deutlich, dass die Rechte und die Chancen auf Förderung für Menschen mit Behinderung immer weiter gestärkt wurden. Werkstätten, Wohnformen in kleinen Einheiten, selbständiges Wohnen, inklusive Begleitung von Kindern und Jugendlichen beweisen dies. In unseren insgesamt acht Partnerkassen in Regelschulen lernen Schüler*innen mit und ohne Behinderung ganz selbstverständlich gemeinsam.
Heute steht die Inklusion als Leitmotiv über allen Diensten im Bereich der Eingliederungshilfe. Für den EVS handlungsleitend ist die Umsetzung der UN- Behindertenrechtskonvention und da berühren sich die Zeit heute mit den Anfängen des BZ: Es geht darum, welche Ideen die Menschen selbst von ihrem Leben haben, was sie sich selbst auch in Bezug z.B. auf ihre Arbeitsstelle vorstellen. Dies heißt nicht um jeden Preis Inklusion, sondern die selbstbestimmte Wahl zwischen unterschiedlichen Angeboten und Möglichkeiten. Unser Auftrag bleibt dabei, die Bildung und Entwicklung der Menschen hin zu einem möglichst selbstbestimmten Leben.
Der Einrichtungsverbund Steinhöring besteht aus kreativen, innovativen und selbstbewussten Mitarbeiter*innen, die Menschen mit Behinderung als selbstbestimmt begreifen und sie dabei unterstützen ihren Lebensentwurf zu entwickelt und zu verwirklichen. Diese starke Dienstgemeinschaft hat die Entwicklung des EVS möglich gemacht.

Die Pandemie der letzten 14 Monate hat diese Prinzipien auf den Kopf gestellt. Alle Beteiligten des Netzwerkes haben aber gezeigt, dass sie auch solche Herausforderungen meistern.

Die Vorhaben für die nächsten 10 Jahre sind riesig. Um die Bedarfe aller anfragenden Menschen bedienen zu können, müssen neue Angebote und Einrichtungen entwickelt werden, zeitgleich gibt es enorme Sanierungsvorhaben. Die Digitalisierung im Bereich der Verwaltungsprozesse und auch der Leistungserbringung sowie die Umsetzung des BTHG und der inklusiven Lösung werden die Arbeit in den nächsten Jahren sicherlich prägen.

50 Jahre sind ein guter Zeitpunkt um inne zu halten und für das Erreichte zu danken. Es ist auch ein guter Zeitpunkt um gemeinsam zu feiern. In abgespeckter Form wird das auch stattfinden, ein Fest für die Bewohner*innen, Schulfeste und verschiedene Feste für Mitarbeiter*innen sind geplant – aber richtig gefeiert wird 2022!

Dr. Gertrud Hanslmeier-Prockl
Gesamtleitung Einrichtungsverbund Steinhöring

EVS Steinhöring